Warum sich manche Menschen ständig entschuldigen – und wann das problematisch wird
Es kann überraschend sein, wie viele Menschen sich reflexhaft entschuldigen – und zwar in den unpassendsten Momenten: bei Meetings, beim Fragenstellen und sogar vor leblosen Gegenständen. Diese weit verbreitete Gewohnheit hat tiefgründige psychologische Ursachen und wird oft als übermäßiges Entschuldigen bezeichnet.
Übermäßiges Entschuldigen – ein psychologisches Phänomen
Psychologinnen und Psychologen nennen es excessive apologizing, das übermäßige und oft automatische Entschuldigen in sozialen Situationen. Schätzungen, obwohl nicht exakt, deuten darauf hin, dass etwa 20 % der Menschen regelmäßig in dieses Verhaltensmuster verfallen. Eine Studie von Prof. Dr. Karina Schumann von der University of Pittsburgh zeigte, dass nicht immer Schuld oder Reue dahinterstecken, sondern soziale Unsicherheiten und ein starkes Bedürfnis nach Harmonie.
Gründe für ständige Entschuldigungen
- Konfliktvermeidung: Entschuldigungen dienen als Schutzschild, um Spannungen zu entschärfen, bevor sie entstehen.
- Geringer Selbstwert: Menschen mit einem verminderten Selbstbild empfinden sich oft als störend oder unberechtigt.
- Perfektionismus: Der Wunsch, keine Fehler zu machen, übt inneren Druck aus – selbst kleine Fauxpas erscheinen großen Versäumnissen gleich.
- Soziale Prägung: In Kulturen, die Konflikte scheuen und Hierarchien respektieren, wie in Deutschland, wird Höflichkeit oft über die Betonung eigener Ansprüche gestellt.
Automatisches Entschuldigen als Übungsprogramm
Dr. Beverly Engel beschreibt dieses Verhalten als erlernte Vermeidungsstrategie. Wer Erfahrungen mit Ablehnung gemacht hat, sucht Sicherheit durch vorauseilende Unterwürfigkeit, was zu einer schwer zu ändernden Gewohnheit werden kann.
Typen des übermäßigen Entschuldigens
- Der Harmonie-Sucher: Meidet Konfrontation komplett und entschuldigt sich frühzeitig.
- Der Perfektionist: Betrachte jede kleine Abweichung vom Ideal als Versagen und als Pflicht, sich zu entschuldigen.
- Der Unsichtbare: Glaubt, dass seine bloße Anwesenheit eine Entschuldigung erfordert.
- Der Verantwortliche: Fühlt sich unabhängig von Zusammenhang für alles verantwortlich – selbst für das Wetter.
Die negativen Seiten dauernder Entschuldigungen
Der Anschein übertriebener Höflichkeit birgt tiefgreifende Nachteile: im Job, in zwischenmenschlichen Beziehungen und für das eigene Seelenleben.
Risiken ständigen Entschuldigens
- Wirkungsverlust: Entschuldigungen verlieren ihren sozialen Wert, wenn sie ständig erfolgen, und werden nicht mehr ernst genommen.
- Glaubwürdigkeitsverlust: Studien legen nahe, dass Betroffene als unsicher oder inkompetent wahrgenommen werden können.
- Selbstwertminderung: Dauerndes Entschuldigen internalisiert eine Botschaft der Minderwertigkeit, ein Teufelskreis setzt sich in Gang.
- Konflikte in Beziehungen: Unreflektierte Entschuldigungen wirken auf andere manipulierend oder übergriffig, obwohl das Gegenteil bezweckt ist.
Kulturelle Einflüsse: Eine deutsche Besonderheit?
Kulturelle Analysen zeigen: In Deutschland, mit starken Werten bezüglich Unsicherheitsvermeidung und Hierarchiebewusstsein, verwechseln Menschen oft Höflichkeit mit Selbstverleugnung.
Erziehungsbedingte Muster in Deutschland
- Pünktlichkeit als Grundwert: Schon geringfügige Abweichungen erzeugen das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen.
- Fehlerintoleranz: Jeder Fehler wird als persönlicher Mangel empfunden, der eine sofortige Entschuldigung nach sich zieht.
- Hierarchiebewusstsein: Entschuldigen gilt als Respektbeweis gegenüber Autoritäten, unabhängig von tatsächlicher Schuld.
- Vorsicht als Empathie: Man will übermäßige Höflichkeit aufrechterhalten, um Konflikte zu vermeiden – selbst wenn es keinen wirklichen Anlass gibt.
Wann ist eine Entschuldigung überflüssig oder sogar schädlich?
Aufrichtige Entschuldigungen können beziehungsreparativ wirken, aber wenn Entschuldigungen zu einer automatisierten Reaktion werden, schaden sie mehr, als sie nützen.
Warnsignale für überflüssige Entschuldigungen
- Du entschuldigst dich häufiger am Tag, obwohl kein erkennbarer Anlass vorliegt.
- Andere weisen dich auf deine ständigen Entschuldigungen hin.
- Unbedeutende Anfragen beginnst du mit „Tut mir leid, aber …“
- Eigene Gefühle, Gedanken oder Meinungen erscheinen dir entschuldigungswürdig.
- Du hast Schwierigkeiten, Grenzen zu setzen oder „nein“ zu sagen, ohne Schuldgefühle zu empfinden.
Psychologin Dr. Harriet Lerner nennt diese Muster klare Anzeichen innerer Unsicherheit: „Entschuldigungen sollten bewusst und ehrlich sein – keine reflexhaften Reaktionen auf jegliches Unwohlsein.“
Strategien gegen den Entschuldigungsautomatismus
Übermäßiges Entschuldigen lässt sich ändern, da es anerlerntes Verhalten ist. Mit ein wenig Übung, Achtsamkeit und Unterstützung kann man einen neuen Umgang mit Sprache und Haltung entwicklungen.
1. Schulung der Aufmerksamkeit
Beobachte dich selbst eine Woche lang: Wann entschuldigst du dich und warum? Diese Aufzeichnungen werden dir zeigen, wie oft deine Entschuldigungen unnötig sind.
2. Formuliere um – ersetze „Sorry“ durch Klarheit
- „Sorry für die Verspätung“ → „Danke für das Warten“
- „Tut mir leid, dass ich frage“ → „Ich hätte dazu eine Frage“
- „Entschuldigung, dass ich störe“ → „Hast du einen Moment Zeit für mich?“
- „Tut mir leid für den langen Text“ → „Ich fasse die wichtigsten Punkte zusammen“
3. Selbstwert aufbauen statt Rückzug
- Verändere innere Dialoge: Sage dir bewusst: „Ich bin in Ordnung, so wie ich bin“.
- Wahre Grenzen: „Nein“ sagen, ohne Erklärung oder Entschuldigung, wenn es nötig ist.
- Feiere Erfolge: Notiere drei Erfolge täglich – das stärkt das Bewusstsein für eigene Stärken statt Schwächen.
Wenn du nicht alleine weiterkommst: Unterstützung annehmen
Oft weist ein übermäßiges Entschuldigen auf tiefere Themen hin – wie Angststörungen oder Depressionen. Therapeutische Unterstützung, insbesondere durch kognitive Verhaltenstherapie, kann helfen, alte Muster zu durchbrechen und neue Verhaltensweisen zu erlernen. Die Wirksamkeit ist in Studien klar belegt.
Eine gesunde Entschuldigungskultur entwickeln
Eine echte Entschuldigung ist wertvoll, wenn sie aufrichtig und an der Situation orientiert ist. Entschuldigungen für die eigene Existenz, Meinung oder Bedürfnisse sind jedoch überflüssig und geben unnötig Macht ab.
Der Schlüssel liegt im bewussten Abwägen: Wann ist eine Entschuldigung angemessen? Und wann kostet sie uns Integrität, Würde und Selbstachtung?
Du hast das Recht, zu fragen, zu fordern und präsent zu sein, ohne dich kleiner zu machen. Nicht jeder Satz braucht ein „Sorry“ – häufig reicht ein selbstbewusstes „Ich bin hier“.
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